Sonntag, 18. Dezember 2016

Eine Pilgerreise??? Hm... Warum eigentlich nicht?


Jahrelang hatte ich Angst, 

eine Pilgerreise überhaupt nur in Betracht zu ziehen...


"Ich bin zu krank.“
„Ich habe keine Kraft.“
„Ich habe kein Geld.“
„Ich brauche doch Lymphdrainage! Und das im Ausland?“
„Was mache ich, wenn …?"
(und dann Schwarzmalerei in allen möglichen Varianten)


All diese Fragen verunsicherten mich die letzten paar Jahre.

Doch der Jakobsweg zog mich insgeheim immer weiter.

Anfang 2016 fand ich durch Zufall heraus, dass es auch in Deutschland Jakobswege gibt und dass einer davon auch noch direkt in meiner unmittelbaren Umgebung verläuft: und zwar die „Via Regia“ bei Merseburg.

Nach kurzer Vorbereitungszeit lief ich mein erstes Stück am 30.04.2016.


Diese Wanderung war wohl das Ereignis, das bei mir den Stein ins Rollen brachte. Mein Wunsch nach einer Pilgerreise nach Santiago de Compostela kam wieder zum Vorschein. Das, was bei mir in den letzten Jahren nur im Hintergrund gebrodelt hatte, brach sich nun mit Macht seinen Weg ins Licht. Meine Sehnsucht steigerte sich schnell ins unerträgliche… Und ich war am Anfang so verzweifelt…


Doch das Wandern tat mir gut. Ich fand beim Laufen meinen eigenen Rhythmus. Zugegeben: Ein ziemlich langsamer Rhythmus. Manchmal überholen mich ja sogar Omis^^.

Aber ich kann halt durch die Schmerzen und die schweren Beine nicht sonderlich schnell Gehen und das musste ich erst einmal akzeptieren.

Das Gefühl eines eigenen Rhythmus, die Zeit an der frischen Luft und die Ruhe um mich herum waren eine ganz neue Erfahrung für mich. Meine Sinne schärften sich. Ich fing an – und das gefühlt zum ersten Mal in meinem Leben – wirklich zu SCHAUEN und zu HÖREN. Dadurch begann ich auch, mich an kleinen Dingen zu erfreuen: an Vogelgezwitscher, an vorbeiziehende Wolken, an Lichtflecken, die die Sonne durch das Blätterdach auf den Waldboden malt, …

So zog es mich immer wieder auf die Wanderwege. Und hin und wieder fiel mein Blick auch mal wieder auf den Jakobsweg nach Santiago de Compostela.



Fast wie ferngesteuert fing ich irgendwann an, über meine Zweifel nachzudenken und beschäftigte mich mit den Problemen, die ich sah bzw. befürchtete. Und Ende November geschah dann etwas Eigenartiges: Ich fasste das erste Mal Mut und dachte darüber nach, ob das mit der Pilgerreise doch irgendwie gehen würde.



Dazu angeregt hat mich die Psychologin vom Studentenwerk, bei der ich 1x im Monat zur Beratung gehe. Wir sprachen über meine Sehnsucht nach dem Jakobsweg und meine Psychologin fragte mich, was das über meine Persönlichkeit aussagen könnte. Das Ergebnis geht ihr hier auf den Fotos.

Zum Vergrößern anklicken



Die nächsten Tage dachte ich viel darüber nach. Außerdem versuchte ich andere Leute mit gesundheitlichen Problemen oder Handicaps zu finden, die auch schon gepilgert sind: hauptsächlich um mir Mut zu machen und weil ich mir Unterstützung erhoffte. Dabei wurde mir der Kontakt zu Anne Chantal nahe gelegt, die schon mehrmals mit Rollstuhl gepilgert ist und auch gerne andere Pilger coacht. Ich war überwältigt von der Geschichte dieser Frau und glücklich, dass sie mit mir über Facebook kommunizierte. Sie bat mir ihre Hilfe an und fragte mich, was ich brauchen würde. Ich erzählte ihr von meiner Krankheit und meinen Problemen und sie versprach, für mich herauszufinden, wie das mit der Lymphdrainage in Spanien ist.



In der Zwischenzeit dachte ich weiter über meine Befürchtungen nach. Bis mir – recht unverhofft – die Erkenntnis kam, dass diese zum größten Teil nichtig waren:



  • Dass ich so langsam war: Na und? Wer würde mich dazu zwingen, schneller zu laufen? Niemand!
  • Dass ich keine 20, 30 oder mehr Kilometer pro Tag schaffte: Na und? Wer würde mich dazu zwingen, weiter laufen zu müssen? Niemand! Und ich schaffte ja immerhin um die 12 km pro Tag oder sogar etwas mehr, ohne dass ich den nächsten Tag zu geschafft war um weiterzumachen.
  • Dass ich kein Spanisch kann: Naja, mittlerweile konnte ich ein bisschen Spanisch und wollte auch noch weiter lernen. Außerdem fand ich heraus, dass man mit Englisch ebenso gut klar kommen soll. Also, warum Angst haben?
  • Dass ich kein Geld hab: Zurzeit, ja. Aber ich könnte noch sparen, hatte meine Sammelaktion bei leetchi.com und würde zur Not auch einen kleinen Kredit aufnehmen. Meine Sehnsucht war mittlerweile so groß, dass das Geld keine schwerwiegende Rolle mehr spielte.
  • Dass ich Bedenken wegen der Jahreszeit hatte: Da legte man mir auf Nachfrage nahe, erst ab März zu gehen, weil die meisten Pilgerherbergen erst im März öffnen. Außerdem sei das Wetter ab März besser. Nur nachts gäbe es meistens noch Minustemperaturen. Damit konnte ich gut leben! Zelten wollte ich eh nicht.
  • Dass ich nicht wusste, wie ich hin und zurück kommen würde: Auch das hatte ich mittlerweile recherchiert. Anreise: Mit Fernbus oder Mitfahrgelegenheit nach Berlin, dann mit dem Flugzeug nach Madrid und von dort mit ALSA (Bus) nach Ponferrada. Rückreise: Kann man vor Ort buchen. Mit dem Bus (wieder ALSA) zu einem Flughafen meiner Wahl, mit dem Flugzeug nach Deutschland und dann je nach Ankunftsort mit Fernbus, Bahn oder Mitfahrgelegenheit nach Hause.
  • Dass ich nicht wusste, wie ich es schaffen sollte, meinen Rucksack zu tragen: Ich besaß seit November einen Pilgerwagen. Das Problem war also schon gelöst: Ich würde mein Gepäck hauptsächlich ZIEHEN und SCHIEBEN STATT SCHLEPPEN!



Aber eine wichtige Angelegenheit fehlte noch: Dass ich Lymphdrainage brauche!

Mitte Dezember meldete sich dann erfreulicherweise Anne Chantal wieder bei mir:

Ich habe gefragt wegen der Lymphdrainage. Es ist günstig, ca. 10 Euro. Du musst in den Herbergen fragen!“, schrieb sie mir.



Nach dieser Nachricht fiel bei mir der Groschen…

Ich wollte nun unbedingt nach Spanien!



Ein bisschen Angst habe ich zwar immer noch, aber ich stellte fast,

dass sie lange nicht mehr so stark war, wie noch vor kurzem!


Da waren noch folgende Befürchtungen übrig geblieben:



  • Dass ich zu krank für diese Reise bin: Naja, wer weiß das schon? Es heißt doch auch: „Probieren geht über Studieren!“. Was mich dabei auch ein bisschen beruhigt: Ich habe eine Auslandskrankenversicherung.
  • Dass ich keine Kraft habe: Vielleicht nicht im klassischen Sinne. Aber mit vielen kleinen Schritten habe ich es bis jetzt schon ziemlich weit geschafft! Warum sollte das auch nicht auf dem Jakobsweg klappen?


Und plötzlich sagte ich zu mir: Eine Pilgerreise??? Hm... Warum eigentlich nicht?
Es gab keine Ausreden mehr!


Abschließend stellte ich noch fest,

dass ich wahrscheinlich die erste Frau mit Lipödemen bin,

die sich so eine Pilgerreise zutraut.


Ich weiß zurzeit noch nicht,

ob mich das stolz machen soll – eben weil ich es mir endlich traue.

Oder –

ob ich Angst davor haben soll,

weil ich die Erste bin, die diese Erfahrung machen wird

und ich deshalb niemanden um Rat fragen kann…

6 Kommentare:

  1. Liebe Nadine!
    Ganz große klasse dein Beitrag. Ich kann dir das so gut nachempfinden... ich leide ja selbst an einer Schmerzkrankheit und der Jakobsweg war für mich auch schon immer faszinierend! Ich freue mich auf eine Kooperation und finde ganz viele Leute sollten diesen inspirierenden Beitrag lesen - lg melanie - www.honigperlen.at

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  2. Hi Nadine,

    das ganz Besondere am zu Fuss unterwegs Sein ist, dass Du es bist, die die Reisegeschwindigkeit bestimmt. Schnelligkeit, Distanz, Pausen, Erlebnisse ... es liegt bei Dir. Und nur Dir selbst gegenüber bist Du verantwortlich.

    Tue es, Du wirst es nicht bereuen. Zu Fuss unterwegs Sein schafft Abstand. Dieser Abstand wir Dir mit jedem Schritt mehr zeigen, was Du schon alles geschafft hast.

    Fussige liebe Grüsse von LangsamMacher Jana
    www.zufussunterwegs.com
    #BLOKOSO

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  3. Danke für den persönlichen Post :-) Ich denke, damit hast du anderen viel Mut gemacht!

    #BloKoSo

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  4. Wow! Wirklich beeindruckend, was du da beschreibst. Ich finde es toll, dass du dich durch die vielen Hindernisse nicht unterkriegen lässt und dabei bist, deinen Traum zu verwirklichen. Das wird bestimmt eine sehr wertvolle und bereichernd Erfahrung werden.
    Alles Gute wünsche ich dir für deinen Jakobsweg.

    LG
    Gina

    #blokoso

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  5. Gratulation! Es ist ein riesengroßer Schritt, den Du gegangen bist! Alles fängt im Kopf an. Diese Blockade, die Du aufgrund der Angst hattest, die scheint nun gelöst zu sein... und das ist toll!
    Ich selbst verspüre auch den Wunsch, diesen bekannten Pilgerweg zu wandern. Eine Religionslehrerin redete damals ununterbrochen davon. Und bis heute (mittlerweile sind fast 8 Jahre vergangen) ließ es mich nicht los. Ich werde ihn auch gehen. Irgendwann ;)

    Ich wünsche dir all den Mut & die Kraft, die Du brauchst!

    Alles Liebe, Juliet

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  6. Interessant zu lesen. Ich habe mich tatsächlich gefragt was so viele Menschen jedes Jahr dazu bewegt auf ein Pilgerreise zu gehen. Danke für Deine Einblicke!

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